Leben oder Überleben? - Die traumatische Spaltung und ihre Folgen

Um eine traumatische Situation zu überleben, dissoziieren wir uns von den überwältigenden Gefühlen, Erinnerungen und Körperempfindungen und spalten uns in traumatisierte, Überlebens- und gesunde Anteile.

Die gesunden Anteile sind natürlich. Sie waren schon immer da. Denn ein Mensch ist von Natur aus gesund. Wenn aber sogar die durch eine echte oder scheinbar bedrohliche Situation ausgelösten Stressreaktionen, die unser Leben retten sollen, eine Gefahr für unser Überleben darstellen, sind wir restlos überfordert und treten auf die Bremse.

In anderen Worten: Da unsere natürlichen Überlebensmechanismen nicht mehr hilfreich sondern sogar lebensbedrohlich sind, fühlen wir uns dazu gezwungen, sogenannte Trauma-Notfallprogramme zu fahren, um zu überleben. Diese spalten einen gesunden Menschen in verschiedene Anteile, die gewöhnlich kaum oder wenig miteinander kommunizieren:

Die traumatisierten Anteile erkennen wir vor allem an ihren Auswirkungen: nahezu unaushaltbare psychische wie körperliche Schmerzen, stockender, rasender oder angehaltener Atem, Verdauungs-, Gelenk-, Haut-, Herz- und hormonelle Probleme, eine erstarrte oder zusammengebrochene Muskulatur, Todes-, Verlust- und Verlassenheitsängste. Gefühle von Hilflosigkeit und Ausgeliefertsein auf der einen, rasende Wut auf der anderen Seite, Schuld-, Scham- und Ekelgefühle ebenso wie ein tiefes Verlust-, Verlassenheits- und Leeregefühl.

Man könnte hier auch, parallel, vom verlassenen, ungeliebten inneren Kind sprechen.

Die Überlebensanteile hatten die Aufgabe, uns in einer für uns zutiefst bedrohlichen, existentiellen Situation zu schützen – indem sie die traumatisierten Anteile, unseren Schmerz, unsere Bedürftigkeit und Angst unterdrückten. Und das tun sie noch heute – obwohl die bedrohliche Situation nicht mehr existiert, ja, obwohl diese Strategien nicht nur destruktiv für uns selbst, unser Wohlbefinden und Körper sind, vielmehr auch Beziehungen im besten Fall schwierig und unbefriedigend gestalten, im schlimmsten Fall unmöglich machen.

Sie sind gewissermaßen „veraltet“, sehen das aber ganz anders, ja, kämpfen weiterhin um ihr Überleben. Diese Anteile sind auch der Kern einer neuen, falschen Identität, die wir oft ein ganzes Leben lang aufrecht erhalten – auf Kosten unseres wahren Selbst.

So trennen sie uns weiterhin von den Traumagefühlen – und -empfindungen, verhindern jegliches Mitgefühl mit ihnen und uns, lassen uns nicht nur weiter sondern oft immer tiefer erstarren, verbergen die Wahrheit vor uns, gewährleisten, dass wir funktionieren wie eine gefühllose, unbeteiligte Maschine und trennen uns immer mehr von der Wirklichkeit, unserer direkten, klaren Wahrnehmung des Moments, unseren Gefühlen, Bedürfnissen und dem Körper ab. Teile des Körpers werden betäubt oder schlecht durchblutet, der Atem auf ein Minimum reduziert, die Verdauung gebremst oder unvollständig.
 
Da das von ihnen erzeugte falsche Ich nicht unserer unmittelbaren Wahrheit und das Unterdrücken von Gefühlen nicht unserer Natur entspricht und uns zudem von unserer natürlichen Lebendigkeit, Lebensfreude und dem Gefühl der Liebe, Unschuld und Zugehörigkeit, des tiefen Verbundenseins mit allem abtrennt, entstehen daraus unendlich viele inneren wie äußeren Konflikte, die ebenfalls abgespalten, unterdrückt, geleugnet, verharmlost und entemotionalisiert werden müssen.

Denn eine Lüge zieht viele Lügen, ein Tabu viele weitere, neue Tabus mit sich.

Kurz: Das Aufrechterhalten eines konstruierten Selbst- und Weltbildes verbraucht Unmengen an Energie, die dem Organismus dann nicht mehr für die Gegenwart zur Verfügung stehen.

Um diese Realitätsverzerrung aufrechtzuerhalten, müssen sie

* sich einreden, dass das Trauma nie geschehen ist
* bzw. dass das alles gar nicht so dramatisch war und dass unfreundliche Situationen uns stärken, nicht schwächen („Was uns nicht umbringt, macht uns stark“).
* sich und ihre Mitmenschen unter Kontrolle halten, damit die Wahrheit nicht ans Tageslicht kommt
so tun als ob es die Probleme, die im Alltag, v. a. in Beziehungen erscheinen, gar nicht gibt, ja, cool und locker spielen, Probleme negieren, verharmlosen oder übermäßig dramatisieren
* sich betäuben mithilfe von Alkohol, Nikotin, Ess-, Brech-, Drogen-, Arbeits-, Beziehungs-, Sex- und viele andere Süchte
* sich mithilfe von Beschäftigung, Musik, Zerstreuung, Konsum und Gesellschaft von den Traumagefühlen, -erinnerungen und ihrer Sehnsucht nach Heilung ablenken
* und somit alles tun, um nicht still, einfach nur da zu sein, zu fühlen, sich zu spüren, wahrzunehmen, was wirklich gerade abläuft.
* zu allem greifen, was hilfreich ist, um ein falsches Selbst- und Fremdbild aufrechtzuerhalten. Hierzu zählen auch das Festhalten an Rollenbildern, destruktiven Verhaltensweisen (einen auf dicke Hose machen, verharmlosen, sich aufspielen, leugnen, rebellieren, sich im Selbstmitleid suhlen, den großen Macher, Gerechten, Erleuchteten, Helfer, Lehrer oder das Opfer spielen etc.) sowie oberflächliche Erklärungen, Diagnosen oder sogenannte „Schnelle Therapie- und Lösungsangebote“, die das Problem nicht nur nicht lösen, sondern oft noch verstärken, nur die eigenen Zweifel und Ängste einschläfern bzw. die Symptome kurzfristig reduzieren.

So sind es auch die Überlebensanteile, die den Arzt, Heilpraktiker, Therapeuten und Satsanglehrer zu einer Art Autorität machen, willig alles über sich ergehen lassen, auch wenn es nicht hilft, enorm zeitaufwändig, schmerzhaft ist bzw. nur weitere, noch sinnlosere Eingriffe nach sich zieht. Sie lassen sich – ohne jegliches Mitgefühl mit ihrem Körper - Körperteile wegoperieren, lasern, ersetzen oder verändern, nur um ihre Ruhe vor den ungeliebten brennenden, stechenden oder ziehenden Symptomen, Entzündungen, Schmerzen und Behinderungen zu bekommen.

Sie machen Meditationen oder Körperübungen, um sich nicht zu fühlen, üben sich in Askese oder wollen die Welt oder ihren Partner oder Kinder retten, übersehen aber, was mit ihnen selbst los ist. Sie sehen lieber weg als hin, stehen gerne über den Dingen, veranstalten ein großes Drama um Kleinigkeiten, spielen jemand besonderes, ziehen sich in einen fernen, scheinbar sachlich-unbeteiligten Beobachterposten oder eine Amnesie zurück, um ja nicht zu sehen, was wirklich geschehen ist oder gerade geschieht.

Sie geben auch gerne die Verantwortung an unfreundliche, abgehobene oder übergriffige Partner, korrupte und/oder gewalttätige Politiker, Priester, Vorgesetzte, spirituelle Lehrer, Ärzte oder andere scheinbare Autoritätspersonen ab und re-inszenieren so ihr Opfersein.

Ein typisches Merkmal von Überlebensanteilen ist auch die Identifikation mit einem falschen Ich, einer Rolle (Geschäftsführer, Präsident, Vorstandsvorsitzender, Mutter, Vater, Familienoberhaupt, Frau, Mann, Tochter, Sohn, Helfer, Lehrer, Opfer, Täter etc.), einem Image (besonders gut, großzügig, lieb, brav, korrekt, hilfreich, gehorsam, fleißig, schön, reich, mächtig, erleuchtet, erfolgreich, oderarm, leidend etc.) oder einem größeren Ganzen (Familie, Verein, Religion, Staat, Nation, Vision, den einzig wahren Gott etc.). Sie gibt dem Anteil das Gefühl, etwas bzw. jemand Besonderes zu sein, das Recht zu haben, über andere zu bestimmen, sie zu kontrollieren und zu manipulieren.

Stellt ein anderer diese Identifikation in Frage sind die Reaktionen oft unangemessen heftig, aggressiv, überheblich, bestrafend oder sanktionierend, da das darunter liegende Selbst-, Welt- und Fremdbild nicht in Frage gestellt werden darf. Dies würde das falsche Ich entlarven oder sogar seine Auflösung bedeuten.

Dies muss unter Aufbietung aller Kräfte verhindert werden.

Typisch ist deshalb auch der Einsatz großer Willenskraft oder extremen Widerstandes. Ein Überlebensanteil kann nicht mit dem Leben mitfliessen, lebendig, flexibel, bedürfnisorientiert, still, einfach, klar, freundlich und doch fest, wohlwollend, empfänglich, respektvoll, menschlich oder mitfühlend sein, denn er ist an der Aufrechterhaltung einer Vorstellung, nicht an der Wahrheit, Wirklichkeit oder an Bewusstsein interessiert. Er ist zutiefst narzissistisch, unflexibel, gefühllos, starr und verbohrt.

Du erkennst ihn auch daran,

dass du heldenhaft etwas zu ertragen versuchst, was im Grunde unerträglich und vollkommen sinnlos ist und dir keine Freude macht,
dass du gegen dich, deinen Körper und andere ankämpfst,
oder dich vollkommen aufgibst, unterwirfst, deine Bedürfnisse leugnest oder sogar versuchst, gar nicht da zu sein,
dass du dich nicht fühlst, spürst, deinen Körper gar nicht wahrnimmst,
dass du nur oder hauptsächlich im Kopf bist,
dass du etwas durchzusetzen versuchst, was gerade nicht geht oder nachgibst, obwohl du dich total unwohl dabei fühlst,
dass du dich ständig ablenkst oder beschäftigst, ungemein viel redest, sinnlose Diskussionen anzettelst, unruhig, rastlos, gereizt, unter Druck fühlst und /oder ängstlich bist,
dass du gegen deine (oder die Natur anderer) vorgehst und
dir dabei sagst, du solltest dich nicht so haben, du seist nicht gut genug, du würdest nicht genügend leisten, du dürftest nicht bedürftig, zart, verletzlich und schwach sein,
dass du nicht einfach nur du selbst sein darfst sondern jemand Besonderes sein musst,
dass du krampfhaft versuchst zu helfen, wo keine Hilfe erbeten oder hilfreich ist,
dass du versuchst, eine Vorstellung, ein Ziel oder eine Vision gegen alle oder sehr viele Widerstände zu verwirklichen,
dass du auffällig viele Konflikte anzettelst oder sie vermeidest,
dass immer die anderen Schuld an deinen Problemen sind :)
dass du mit dem, was du gerade tust oder unterlässt, nicht dem großen Ganzen sondern nur einem künstlichen Image dienst,
dass du eine schmerzhafte Erfahrung mit allen Mitteln zu verhindern suchst, dich nicht spüren, nicht hin- sondern wegsehen, die Wirklichkeit verschleiern, verharmlosen oder dich wegbeamen möchtest und
dass deine Aufmerksamkeit mehr bei anderen, im Außen, als bei dir selbst ist.

Die „Ich-muss-Trance“ ist ebenfalls ein wesentliches Merkmal von Überlebensanteilen (siehe auch das E-Book „Das innere Kind und die Stille“).

Aber was tun wir, wenn wir entdecken, dass unsere Aufmerksamkeit gerade in einem Überlebensanteil steckt und wir darunter leiden?

Nun, ihn erst einmal bewusst wahrnehmen und (an)erkennen als das, was er ist: Eine Überlebensstrategie. Denn sie dient nicht dem Leben, sondern dem Überleben.

Allein das – voller Liebe und Mitgefühl - zu sehen, dass du gerade ums Überleben kämpfst und so tust als bestünde die traumatische Situation noch, kann sehr viel lösen. Für mich war es oft auch hilfreich, zu sehen, wie viel Mühe ich mir gemacht habe, ein falsches Selbstbild aufrechtzuerhalten, wie anstrengend und für die Katz das ist.

Denn es bringt nichts als Ärger und noch mehr Ärger.

Kurz: Soviel Mühe für nichts! Soviel Angst davor, etwas zu sehen, zu fühlen, einfach nur zart, schwach, bedürftig, still, nichts, niemand und alles zugleich zu sein oder eine Niederlage zuzugeben!

Auch zu sehen, warum bzw. wie dieser Überlebensanteil entstanden ist und anzuerkennen, dass er in der Ursprungssituation eine wesentliche Funktion hatte, jetzt aber nicht mehr dienlich ist, kann sehr heilsam sein.
Um dann die enorme Angst vor dem Tod und die tiefe Sehnsucht nach Liebe, Wahrheit, Einssein, nach DEM zu spüren, was du wirklich bist, die dahinter steht.

Und damit bewusst zu atmen und mit deiner Aufmerksamkeit im Körper zu bleiben.

Umso mehr du erkennst und spürst, was wirklich dahinter steht – ein verletztes inneres Kind, das ums Überleben kämpft und versucht, jemand zu sein, das es nie war – siehst, dass du das nicht bist und es hältst – aus der Stille, Dem heraus, was du wirklich bist, es fühlen, weinen, wütend, traurig, einsam, bedürftig, still, nichts und niemand und zugleich alles sein darf - umso sanfter, zarter, weicher und ruhiger wird es.

Dabei kann es auch zu spontanen Entladungen kommen: Schutzhaltungen und die dadurch verursachten Muskelanspannungen können gehen, Gewebe, das zuvor inaktiv oder schlecht durchblutet war, wird wieder aktiviert und vollständig versorgt. Eiskalte Hände und Füße werden wieder warm, ein vorher blasses Gesicht nimmt wieder Farbe an, die Atmung fließt wieder frei, der Blick wird klar.

Und auch die traumatisierten Anteile, die sich bisher verlassen und verloren fühlten, bekommen endlich, was sie so sehr ersehnen: Zuwendung, Wohlwollen, Mitgefühl und Anerkennung.

Auch sie kommen endlich nach Hause.

Bis zum nächsten Mal. :)

(aus: „(Un)Endlich frei! - Traumata als Tor zur Freiheit“ von Gabriele Rudolph, mehr dazu hier)

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Rückmeldungen zum Text in facebook:

* Genial beschrieben , wie immer - Gabriele halt :)

* Ganz phantastisch dargelegt!!!

* Deine Artikel sind echt super!

* Das sind Worte, die mich jetzt zum Heulen gebracht haben ... Danke.

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