Bitte, lass mich nicht alleine! – Ein Fallbeispiel

Die Wirkung von Traumata zeigt sich vor allem in Beziehungen, seien es Paarbeziehungen, Freundschaften, Geschäfts- oder politische Beziehungen. Sie führen zu heftigen Konflikten bis hin zu Krieg und verursachen dadurch immer wieder neue Traumata. Ich bin deshalb sehr froh über Menschen, die bereit sind, sich ihre Themen anzusehen und zu lösen.

Aber wie geht das?

Ich habe in diesem Buch schon viele Selbsthilfemöglichkeiten ausgeführt. Wenn diese aber nicht helfen bzw. nicht ausreichen, um das Problem zu lösen, empfehle ich eine körperorientierte Traumatherapie bei einem Traumatherapeuten und idealerweise auch in der Lage ist, dich bis ins Erwachen zu begleiten, da dies den Umgang damit enorm erleichtert.

Ich habe zudem schon mehrmals erwähnt, dass ein Trauma eine Art unvollendete Erfahrung ist, die sich so lange re-inszeniert, bis alle darin enthaltenen Elemente bewusst wahrgenommen und ausgedrückt wurden - idealerweise in der Gegenwart eines präsenten, wachen und kompetenten Therapeuten, der dir darin Halt geben kann und die Fallen und Schleichwege eines Traumas kennt.

Wie eine solche Begleitung ablaufen kann, möchte ich gerne anhand des folgenden Fallbeispieles anschaulich machen. Ich habe mich über diesen Klienten besonders gefreut, da es bisher noch immer sehr viel mehr Frauen sind, die zu mir kommen. Ich arbeite sehr gerne mit Frauen und schätze das Weibliche in mir wie anderen Menschen ungemein. Zugleich freue ich mich sehr über jeden Mann, der zu seiner Verletzlichkeit steht und seine Traumata auflösen möchte:

Er war damals 48 Jahre alt und sehr unglücklich, weil er und seine Freundin immer häufiger stritten, v. a. wenn sie sich während bzw. nach einer Auseinandersetzung zurückziehen wollte, um sich zu beruhigen. Dieser Rückzug ihrerseits versetzte ihn in existentielle Ängste und so fing er an zu klammern und weigerte sich, ihre Wohnung zu verlassen bevor sie ihm nicht versichert hätte, dass alles in Ordnung sei. Sie fühlte sich dadurch, so der Klient, sehr bedrängt und in ihrer Freiheit eingeschränkt, wodurch ihre Streitigkeiten immer wieder eskalierten. Er fühlte große Scham- und Schuldgefühle, dass er nicht in der Lage war, ihrer Bitte, die Wohnung zu ver- und sie alleine zu lassen, nachzukommen. Auch litt er nach diesen Szenen unter Verlassenheitsängsten, starker Unruhe und (Durch)Schlafproblemen.

Hier liegt mit großer Wahrscheinlichkeit ein frühkindliches Trauma vor. Aufgrund der Informationen, die während der Arbeit damit zutage kamen, zeigte sich, dass der Klient so reagierte, weil er sich als Kind von seiner Mutter immer wieder verlassen fühlte. Nach der ersten Sitzung bat ich den Klienten, mir diese aus seiner Sicht zu schildern. Hier sein Bericht:

Gabriele fragte mich nach meinen Gefühlen und Körperwahrnehmungen, ob die Verlassenheit von damals jetzt aktuell zu fühlen sei. Ich erwiderte, dass das der Fall wäre: Ein verkrampftes Gefühl im Magen-Darm-Bereich und im Solarplexus und auf der Stirn. Sie bat mich, dieses einmal zuzulassen und zu fühlen und fragte mich, wie es mir damit ginge. Ich erwiderte: „Ich fühle mich schlecht.“

Dann erinnerte sie mich an eine Umarmung, die ich kurz zuvor erfahren hatte, und fragte mich wieder nach meinen Körperwahrnehmungen und meinen Gefühlen. Ich berichtete, ich würde mich wohlfühlen, da wäre ein Kräuseln auf der Haut, Fließen, Fluten, Wärme, angenehmes Gefühl, Freude, starke Körperpräsenz und –empfindungen.

Dann bat sie mich, mich wieder an eine Situation zu erinnern, an der ich mich zuletzt verlassen fühlte. Ich empfand sofort wieder die Verkrampfung im Magen-Darm-Bereich/an der Stirn sowie ein Durchlässigwerden des Körpers (Auflösung), Kälte, klammes Gefühl, Krampf/Klammern im Magen-Darm-Bereich. Sie bat mich, es so zu lassen und einfach nur bewusst wahrzunehmen.

Ich fühlte dies und fühlte auch, wie ich dissoziierte und mich von meinem Körper entfernte und in einen Bereich verkroch, der sich hinter meiner Fontanelle/am hinteren, oberen Kopf befand. Sie hielt mich an, mich einmal bewusst dahin zurückzuziehen und zu fühlen, wie es dort sei und offen dafür zu sein, was geschieht. Ich spürte ziemlich bald eine langsame Wut aufsteigen.

Gabriele fragte mich, was die Wut denn tun wolle. Ich schrie und stampfte mit den Füßen, trommelte mit den Händen auf den Boden, jammerte und klagte trotzig. Ich hatte das Gefühl, dass ich mich gleichzeitig von meiner Mutter trotzig abwenden sowie verzweifelt zu ihr hinwenden wollte. Dies ließ mich paralysiert erstarren.

Ich wurde wieder behutsam angehalten, die Erstarrung zuzulassen und bewusst hin zu spüren, wie sich dies anfühlte. Es kamen dabei Gefühle der Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit, der Kälte und Isolation zum Vorschein und eine Empfindung, dass das, was mir damals widerfahren war, niemals wieder gutgemacht werden könnte. Ich habe diese Gefühle sehr lange weiter zugelassen und ihnen nachgespürt.

Dabei wandelte sich meine Wahrnehmung. Mein Körper fühlte sich plötzlich tapsig und überdimensioniert an als hätte ich die Proportionen eines Säuglings – wie aufgeblasen/aufgedunsen, als bestünde ich aus Wasser, alles sehr weich und warm.

Ich hatte auch starke Hitze- und Wärmeempfindungen, die durch meinen Körper fluteten und fühlte mich ein wenig müde und abgekämpft, aber total glücklich/selig – wie im Arm einer Mutter liegend – eingekuschelt und warm, rundum umsorgt. Auch war meine Wahrnehmung plötzlich viel klarer und präziser.

Das Gefühl der Geborgenheit hielt noch den ganzen Tag und den Folgetag an.

Der Klient war nach der Sitzung auch total erstaunt, wie gut es ihm plötzlich ging und fragte mich, wie „ich“ das gemacht hätte - eine Reaktion, die mir häufiger begegnet.

Deshalb: Was ist da geschehen?

1. Um Zugang zu einem Trauma zu bekommen, braucht es einen klaren Bezug zu den damit zeitgleich auftretenden Körperempfindungen und Gefühlen. Dies ermöglicht dem Betroffenen den unmittelbaren Kontakt zu seinem Reptiliengehirn, das für die mit einem Trauma in Verbindung stehenden Überlebensreaktionen zuständig ist. Deshalb ist auch Sprache nicht das wesentliche Mittel der Wahl. Man kann Jahre über ein Trauma sprechen ohne es auch nur im Geringsten zu berühren geschweige denn zu heilen.

Auch ist es wesentlich, den Klienten durch Sprechen über eine traumatisierende Erfahrung nicht unnötig in traumatische Gedankenstränge, -gefühle und -bilder zu führen, die das Trauma nur aktivieren, aber nicht lösen. Um also eine Retraumatisierung bzw. einen Zusammenbruch zu verhindern, ist es wesentlich, das Nervensystem vor oder während der Therapiesitzung immer wieder zu stärken. Dies kann durch spezifische Berührungen seitens des Therapeuten geschehen oder/und indem man von den traumatischen Körperempfindungen zu stärkenden Empfindungen wechselt. So habe ich den Klienten sowohl die Empfindungen fühlen lassen, die er beim Sprechen über die Problemsituationen hatte ebenso wie die, die er während einer kurz zuvor stattgefundenen Umarmung erfahren hatte.

Dabei lernt der Klient auch zwischen den Zuständen zu „switchen“ und damit auf eine Art mit dem Trauma umzugehen, die das Nervensystem stärkt. Dies hat zudem noch den angenehmen Effekt, dass er sich dabei immer bewusster wird, dass er den traumatischen Gefühlen und Empfindungen nicht ausgeliefert ist.

In anderen Worten: Er lernt wieder Herr im eigenen Haus zu sein.

Auch erfährt er dabei etwas darüber, wie er bisher mit dem Trauma umgegangen ist. In diesem Fall dissoziierte er. Ich kann nicht genug betonen, wie wichtig es ist, ganz bewusst zu erfahren, dass der Klient dies tut und wie. Deshalb lud ich ihn ein, die Dissoziation bewusst zuzulassen und mir zu beschreiben, wie er das tut, wohin er genau geht und wie sich das anfühlt.

Das erhöht sowohl sein Gefühl von Eigenmacht, die bei der Heilung eines Traumas elementar wichtig ist, und den Wiedererkennungseffekt, wenn das Trauma wieder getriggert werden sollte. Denn umso früher du erkennst, dass eine Aktivierung stattfindet, umso früher kannst du den Ablauf der prozeduralen traumatischen Erinnerung aufhalten und die Gefühle liebevoll halten, bevor sie ihre Wirkung entfalten und ein Stopp zunehmend schwieriger wird.

4. Bei diesem Klienten stieg dann kurz darauf Wut auf, da er diese gesunde Form der Aggression ursprünglich weder leben noch ausdrücken konnte. Er war in dem Konflikt zwischen Abwendung und Zuwendung zur Mutter gefangen und blieb dadurch in der Erstarrung stecken.

So entstand das Trauma.

5. Deshalb bat ich ihn, all dies bewusst zu fühlen, nicht auszuweichen (!) und zugleich offen zu bleiben für jede sich ergebende Veränderung.

6. Dabei erkannte er zutiefst, dass jegliche spätere Zuwendung der Mutter oder anderer Menschen das Trauma nicht mehr „heilen“ oder ausgleichen konnte. Denn durch das Trauma war er abgeschnitten – von sich und seiner Umwelt. Das Problem „steckte“ in ihm und konnte deshalb auch nur „in ihm“ gelöst werden.

7. Die starken Hitze- und Wärmeempfindungen, die dabei auftraten, sind Entladungsphänomene des autonomen Nervensystems. Danach fühlte er sich, wie oben beschrieben, wohlig, warm und geborgen.

8. Und er erlebte die Körperempfindungen eines Säuglings, was darauf hindeutet, dass er ein Baby war, als er das erste Mal verlassen wurde. Es ist also zu vermuten, dass das erste Trauma geschah, als er nach der Geburt sofort von seiner Mutter getrennt wurde – ein nicht seltenes Vorgehen in Krankenhäusern früher, das leider auch heute noch manchmal praktiziert wird und mit großer Sicherheit ein Trauma erzeugt.

9. Typisch ist auch, dass er, nachdem er alles noch einmal körperlich und emotional erfahren hat, wieder ganz im Hier und Jetzt ankam und sich staunend darüber äußerte, wie präzise seine Wahrnehmung plötzlich war: Er sah Farben und Umrisse viel klarer, eine tiefe Lebensfreude stieg in ihm auf, seine gesamte Aufmerksamkeit stand wieder für die Gegenwart zur Verfügung.

Wie kann das sein?

Nun, ein Trauma bindet enorm viel (Wahrnehmungs- und Handlungs-)Energie. Das bedeutet: Solange es nicht gelöst ist, hat ein Mensch nicht die Fähigkeit, auf Dauer wirklich präsent zu sein und sich auf das zu fokussieren, was ihm wichtig ist, da es die Aufmerksamkeit immer wieder auf die alten Verletzungen lenkt.

In anderen Worten: Man ist sprichwörtlich nicht da und kann dies auch nicht willentlich steuern, da ein Trauma auf Autopilot fährt und das Reptiliengehirn die Verbindung zum Neokortex, der bewussten Impulsbremse, abgebrochen hat.

Aber zurück zu meinem Klienten: Ich bat ihn am Ende der Sitzung zu beobachten, was nun im Folgenden zwischen ihm und seiner Freundin geschieht, um zu testen, ob die Intervention auch im Alltag Konsequenzen hatte.

Bei der nächsten Sitzung berichtete er dann von der Überraschung seiner Freundin, dass er, als sie sich am folgenden Abend wieder von ihm zurückzog, keine Probleme damit hatte, ja, sich ganz entspannt fühlte und kurz danach wohlig einschlief.

Noch etwas: Wie du beim Durchlesen sicher bemerkt hast, war es nicht nötig, das Ursprungstrauma genau herauszuarbeiten oder zu verifizieren. Wesentlich war, dass die Ursprungserfahrung zu Ende gebracht werden konnte, indem die körperliche Erfahrung des Traumas erinnert, bewusst gemacht und zu Ende erfahren werden konnte.

Dabei beginne ich gewöhnlich mit der letzten, aktuellen Re-Inszenierung eines Traumas – in diesem Fall der letzte ihm präsente Streit. Sie führt, wie von selbst zurück zum Ursprungstrauma. Das Ursprungstrauma plus die sich darüber lagernden Retraumen bezeichne ich gewöhnlich als Trauma-Engramm – eine Art Aufeinanderschichtung eines Ursprungstraumas und seiner Re-Inszenierungen.

Das Interessante daran ist, dass wenn man die aktuelle Re-Inszenierung bearbeitet, gewöhnlich das Ursprungstrauma erscheint und damit automatisch genauso bearbeitet wird wie die dazwischenliegenden Re-Inszenierungen.

Übrigens: Die Aufarbeitung eines Traumas ermöglicht nicht nur seine Auflösung, es stärkt auch die Fähigkeit des Nervensystems, sich selbst zu regulieren sowie emotional schwierige bzw. überwältigende Situationen leichter und schneller zu meistern.

Genial, oder?

(aus: "Endlich frei! - Traumata als Tor zur Freiheit" von Gabriele Rudolph)

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